Erster Satz:
"Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens."
Zu einem düsteren Ort hat Dörte Hansen diese kleine Nordseeinsel gemacht, auf der sich die Geschichte von "Zur See" zuträgt. Zu einem kalten Ort mit zugekniffenem Mund und hochgezogenen Schultern. Abweisend, frostig und scheinheilig. Verloren gegangen an die Geister der Vergangenheit, jener großen Seefahrer, echter Männer, die monatelang zum Walfang auf dem Meer waren, zuhause erwartet von ihren Frauen, die nie wussten, ob sie im nächsten Jahr Witwe sein würden.
Nichts ist übrig geblieben aus dieser alten Zeit außer die vielen Geschichten und die alte Sprache der Inselbewohner. Die Männer fahren schon lange nicht mehr raus auf Walfang und man muss sich wohl oder übel an die heutigen Zeiten anpassen, an die Regeln halten. Das gelingt einigen besser und anderen nur scheinbar.
Familie Sander driftet in dieser schnelllebigen Zeit, in der der Familie die Wurzeln geradezu abgeschnitten werden, immer mehr auseinander und in Richtung Abgrund.
"Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen."
- Zitat Seite 155 -
Ryckmer, der älteste Sohn der Familie, hat einst pflichtbewusst das ihm auferlegte Erbe angetreten und ist zur See gefahren. Hat sich hochgearbeitet bis auf die Kommandobrücke eines Frachters und sich anschließend wieder runtergesoffen bis auf die kleine Inselfähre. Wenigstens das bekommt er unter strenger Beaufsichtigung von Mutter Hanne zunächst noch hin. Bis die alkoholgeschwängerten Exzesse immer mehr werden, häufiger werden, zu Totalausfällen werden und Ryckmer fortan an Land bleiben muss.
Dass er schwerer Alkoholiker ist, ist dem Leser relativ schnell klar. Warum seine Familie ihm jedoch in keinster Weise Hilfe anbietet, erst nach und nach. In der Familie Sander wird gearbeitet, man muss immer was zu tun haben. Geredet oder etwas erklärt wird hingegen nicht. Nur der äußere Schein, der muss stimmen. Wie es im Inneren der Familienmitglieder aussieht, ist nicht weiter von Belang.
So zieht Ryckmer also mit über 40 Jahren wieder in sein Elternhaus und es wird kein Wort darüber verloren. Das ist jetzt bei denen so und fertig.
"Es ist die Sorte Liste, die sein Vater schon auf seinem Tisch gefunden hat, wenn er nach Hause kam nach langer Fahrt. Hanne Sanders Art zu sagen, dass ein Mann, der nicht auf See ist, sich zumindest nützlich machen soll."
- Zitat Seite 103 -
Eske, die Tochter der Sanders, ist die Tougheste der Familie, versucht, zusammenzuhalten, was schon längst auseinandergedriftet ist, zeigt Verständnis und nimmt sich selbst Auszeiten auf dem Festland. Als Altenpflegerin betreut sie nun jene alten Kapitäne, die nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, was es für beide Seiten unangenehm macht.
Henrik, der jüngste Sohn von Hanne und Jens Sander, scheint nicht von dieser Welt zu sein und in seinem eigenen Kosmos zu leben. In einem Schuppen am Strand wohnt er zusammen mit seinem Hund und baut Skulpturen aus Strandgut, die bei den Touristen reißenden Absatz finden. Unverständlich für Hanne. Henrik scheint es jedoch egal zu sein. Er wirkt glücklich und mit sich im Reinen. Als einziger Mann der Familie ist er nie zur See gefahren, trotzdem ist da diese unstillbare Sehnsucht nach dem Meer in ihm.
"Wunschkind kann ein böses Wort sein, wenn dieses Kind die Wünsche seiner Eltern zu erfüllen hat, als wäre es ein Zauberer. Wenn es die Wut verrauchen lassen soll und die Entfremdung überwinden und einen Mann dazu bewegen, dass er bleibt.......Ihr Jüngster hat nicht zaubern können, und wie zur Strafe hat ihn seine Mutter fast vergessen. Während sie mit Jens gestritten hat, die Gäste und das Haus versorgt, ist er im toten Winkel groß geworden."
- Zitat Seite 79/80 -
Und dann ist da noch Jens Sander, der Vater. Einst zur See gefahren und immer fremder im eigenen Haus, das Hanne zu einer Pension für Sommergäste gemacht hatte, in dem er seine Frau immer weniger wiedererkannte. Drei Kinder hielten ihn nicht davon ab, irgendwann ganz weg zu bleiben und sich auf einer kargen Felsinsel in einem alten Gebäude als Ornithologe niederzulassen. Nur er, der Wind, das Meer und die Vögel. Jens ist schweigsam und in sich gekehrt und man bekommt den Eindruck, dass ihm diese Welt zuviel ist.
"Es zählten nur die Männer, die hinausgefahren sind. Man sah herab auf trockene Berufe, als wären alle Lehrer, Bauern, Tischler, Bäcker Feiglinge, die sich nur drücken wollten vor der See. Er erinnert sich noch an das Mitleid seines Vaters, als die Neffen in den Einzelhandel wollten und der Onkel fast vor Scham verging."
- Zitat Seite 153 -
Eines Tages wird ein noch lebender Pottwal auf der Insel angespült, der schnell zur Metapher von Vergang und Wandel wird. Aus den einst so großen Walfänger-Familien weiß keiner mehr, wie mit einem so riesigen Tier, dass kurz nach dem Anlanden stirbt, erstickt von seinem eigenen Gewicht, zu verfahren ist. Seit Generationen sind die Männer der Insel nicht mehr auf Walfang gewesen, haben allenfalls Krabben gefischt und sehen nun ihre selbst glorifizierte Vergangenheit mit dem Wal sterben.
"Er steht so dicht bei ihm, dass er ihn mit der Hand berühren könnte. Ein Tier, das wie ein Mythos ist, Propheten schluckt und Kapitäne in den Wahnsinn treibt. Das, wenn es will, ein Schiff versenken kann.
Vielleicht graut ihm auch vor dem Menschen neben ihm. Wer weiß, ob nicht die jungen Wale von den alten lernen, dass man sich hüten muss vor Kreaturen wie Jens Sander. Ob sie nicht Schlimmes hören über Lebewesen, die für das Land gemacht sind und auf See zu Ungeheuern werden."
- Zitat Seite 134 -
Dörte Hansen hat hier keinesfalls ein Buch geschrieben, bei dessen Lektüre man sofort den nächsten Nordseeurlaub buchen möchte, ganz im Gegenteil. Die Nordseeinsel kommt ablehnend, fast schon feindselig daher, die Bewohner allesamt verzweifelt an alten Traditionen festhaltend, die ihnen doch Tag für Tag mehr entgleiten. Das Thema Tourismus ist hier ein großer Knackpunkt, denn die Insulaner hassen es, müssen aber damit leben, weil sie mittlerweile davon leben.
"Es gibt hier nichts Beständige. Das Fließen, Strömen und Verlanden, Stürmen, Auseinanderreißen hört nicht auf. Land gewonnen, Land zerronnen. Alles will hier Horizont sein.
Und falls die See doch länger brauchen sollte, werden Bustouristen, Kurzurlauber, Kapitänshauskäufer dafür sorgen, dass die Leute von den Inseln untergehen. Ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Lieder nicht mehr singen, ihre Trachten nur noch für die Gäste tragen und zu Kleindarstellern ihres Lebens werden."
- Zitat Seite 168 -
M E I N F A Z I T
_____________
Dörte Hansen hat es mir nicht leicht gemacht, weder mit dem Ort, noch mit den Protagonisten, noch mit der Geschichte an sich. Hier gibt es keine Freude und kein Glück, hier ist jeder Tag ein harter Kampf, die Stimmung von der ersten bis zur letzten Seite gedrückt. Sämtliche Protagonisten waren für mich nicht greifbar, blieben im Nebel. Dass in diesem Buch die direkte Rede komplett fehlt, hat es für mich auch nicht einfacher gemacht. Aber....die Sprache! Großartig und gewaltig, eine andere Beschreibung fällt mir dazu nicht ein. Dörte Hansen hat einen unverwechselbaren Schreibstil und mit "Zur See" hat sie meiner Meinung nach ein Meisterwerk abgeliefert. Obwohl mir die Geschichte überhaupt nicht gefallen hat, vergebe ich hier
3,5 von 5 Glitzersternen
INFOS ZUM BUCH
TITEL: Zur See
AUTORIN: Dörte Hansen
VERLAG: Penguin
ISBN: 978-3-328-60222-4
ERSCHIENEN am 28. September 2022
FORMAT: Hardcover
SEITEN: 256
PREIS: 24,00 Euro