Buchbesprechung: Die Hafenärztin - Ein Leben für die Freiheit der Frauen von Henrike Engel

Rezensionsexemplar 

Hamburg 1910 - Völlige Armut und opulenter Reichtum driften weit auseinander, Frauen fangen an, für ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen und ein Serienmörder versetzt die Stadt in Angst und Schrecken

Eigentlich wollte ich diesen Roman ja gar nicht lesen. Denn ich muss zugeben, dass mich weder das Cover noch der Titel ansprechen. Eine junge Dame, gut gekleidet, die scheinbar geheimnisvoll nach hinten über ihre Schulter blickt und ein Titel, der so austauschbar und für mich völlig lahm klingt. Die Hafenärztin....die Hebamme...die Kinderkrankenschwester...die Teehändlerin....alles Titel, an denen ich im Buchhandel vorbeigehen würde.


Als mir der Ullstein Verlag jedoch diesen Roman zukommen ließ und ich entdeckte, welche von mir sehr geschätzte Autorin sich hinter dem Pseudonym Henrike Engel verbirgt, war meine Neugier dann doch geweckt.



Erster Satz:

"Ihre Finger umschlossen die Reling, krampften sich mehr und mehr um das Holz, je näher sie dem Hafen kamen."



Hamburg also. Die Stadt, die ich als die schönste überhaupt in Deutschland empfinde und die ich sehr oft besuche. Dieses Hamburg im Roman befindet sich jedoch im Jahr 1910, mitten in der Kaiserzeit und zudem im Umbruch.

 

Die Autorin hat drei Hauptprotagonisten für diesen Roman, der übrigens der erste Teil einer Reihe ist, gewählt:

 

Anne Fitzpatrick ist als reiche Reederstochter in Hamburg aufgewachsen und irgendwann mit ihrer Familie nach einem prekären Vorfall, der nicht näher erläutert wird, nach England übergesiedelt. Dort hat sie als eine der ersten Frauen überhaupt Medizin studiert, was in Deutschland zu dieser Zeit noch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Irgendetwas ist nun in England vorgefallen, Anne wird polizeilich gesucht und flüchtet an Silvester 1909/1910 Hals über Kopf unter dem falschen Namen Fitzpatrick zurück in die alte hanseatische Heimat. Dort arbeitet sie ehrenamtlich als Ärztin für die Ärmsten der Armen in den Gängevierteln und im Hafen, finanziell unterstützt von ihrem wohlhabenden Vater. Als sie plant, in einem eher brachliegenden Teil des Hafens, in dem einige Jahre zuvor das große Gasometer explodiert ist, ein Haus als Zufluchtsort für hungernde, kranke und misshandelte Frauen zu eröffnen, werden unmittelbar davor zwei grausam verstümmelte weibliche Leichen gefunden.

 

 

"Es war keineswegs die Demütigung, die ihr die Tränen in die Augen getrieben hatte. Es war Wut. Ihre Wut, immer wieder gegen die gleichen Mauern zu rennen. An den Regeln zu scheitern, die Männer aufgestellt hatten. Sich eine blutige Stirn an ihrer Ignoranz zu holen."


- Zitat Seite 139 -



Helene Curtius ist eine Pastorentochter mit strengem Elternhaus. Der Vater schwingt hier das Zepter und bestimmt, dass seine Tochter auf die Hauswirtschaftsschule geht, damit sie beschäftigt ist und etwas für ihr zukünftiges (möglichst baldiges) Leben als Ehefrau, Hausfrau und Mutter lernt. So wie ihre Mutter schon vor ihr und alle anderen Frauen aus gutem Hause. Helenes Mutter haben die Jahre an der Seite eines kaltherzigen Mannes depressiv gemacht und Helene will mehr vom Leben. Viel mehr. Sie möchte am liebsten studieren, was ihr jedoch in dieser Zeit und an diesem Ort nicht möglich ist. Lehrerin zu werden ist eine Alternative, die ihr insofern sehr attraktiv erscheint, da Lehrerinnen zu Kaiserzeiten unverheiratet sein mussten. Als sie von Anne und der baldigen Eröffnung des Frauenhauses erfährt, wagt sie sich voller Neugier und mit dem Vorhaben, sich ebenfalls für bedürftige Frauen engagieren zu wollen, in den Hafen.....und findet die erste Leiche.

 

 

"Bei genauerem Hinsehen erkannte Helene, dass hier unterernährte Frauen und Kinder waren, solche, die furchtbar husteten, schlechte Zähne hatten, Wunden, blaue Flecken. Sie durchlitten offensichtlich Armut, Gewalt, und alle, mit Ausnahme der ehrenamtlichen Helferinnen, zeigten Merkmale eines harten, viel zu harten Lebens. Doch hier waren sie willkommen, wurden versorgt, und Friede umgab sie."


- Zitat Seite 144 -



Berthold Rheydt ist Kommissar bei der Hamburger Polizei und ein gebrochener Mann. Gebürtig von der Insel Föhr stammend, hat er es nie verwunden, dass seine Frau und sein Sohn von einem Ausflug ins Watt nicht zurückkehrten und ihr Schicksal ungewiss ist. Er stürzt sich in die Arbeit, um sich abzulenken, und übernimmt mit Feuereifer den Fall der beiden Leichen im Hafen, bei dem sich schnell herausstellt, dass man es mit einem Serienmörder zu tun hat. In seiner freien Zeit trinkt Berthold zu viel, womit einmal mehr das übliche Ermittler-Klischee erfüllt wird, was ich sehr schade finde. Interessant hingegen ist jedoch, dass er ebenfalls begeisterter Hobbyfußballer ist und sich mit Vorliebe beim noch in den Kinderschuhen steckenden FC St. Pauli verausgabt.

 

 

"Jeder Mann, der es nötig hat, sich bewaffnet gegen unbewaffnete Frauen zur Wehr zu setzen, oder besser: sie anzugreifen, ist ein Angsthase."

"Das stimmt wohl. So habe ich es noch nicht gesehen. Ich habe nur die Wut gesehen, die Waffen. Und ich hatte Angst."

"Besser, Sie lernen diese Lektion früh, Helene. Machen Sie einen Bogen um jeden Mann, der die Hand gegen Sie erhebt - aber Gefahr geht auch von denen aus, die andere Waffen einsetzen."

"Sie mögen Männer nicht besonders?"

Anne lachte bitter. "Ich habe zu wenige kennengelernt, die ich wirklich schätzen konnte. Zeigen Sie mir einen, der so klug ist, dass er Frauen auf Augenhöhe akzeptiert, und ich revidiere sofort mein Urteil."

"Kommissar Rheydt?", versuchte Helene vorsichtig einzuwenden, obwohl sie diesen für einen Widerling hielt.


- Zitat Seite 357 -



"Die Hafenärztin" ist meiner Meinung nach ein absolut unpassender Titel für dieses Buch, denn in ärztlicher Hinsicht passiert hier kaum etwas. Den Hauptteil des Romans machen wirklich die immer neuen Leichenfunde und die Ermittlungsarbeiten aus, so dass man das Buch schon fast als historischen Krimi bezeichnen kann.

 

Abwechselnd wird aus der Sicht der drei Hauptprotaginisten erzählt, was das Ganze sehr spannend macht, da jede Person einen anderen Fokus hat, alle jedoch mehr oder weniger in den Kriminalfall verwickelt sind und so ihre eigenen Überlegungen und sogar Nachforschungen anstellen.

 

Die Geschichte gibt jedoch auch einen guten Einblick in das Hamburg der damaligen Zeit, in das opulente Leben der Bourgeoisie und in die bittere Armut und Hoffnungslosigkeit der Menschen in den Armenvierteln. In das erste zarte Aufbegehren der Frauen, die für mehr Rechte kämpfen und in die festgefahren Gesetze, die von Männern für Männer gemacht wurden.

 

Es ist unglaublich interessant, über die Polizeiarbeit der damaligen Zeit zu erfahren, in der man noch nicht mal einen Bruchteil der heutigen Möglichkeiten hatte. Über das Verhältnis der Herrschaften zu ihren Dienstboten, das leider nur allzu oft völlig unpassend ausgenutzt wurde. Über die Hilflosigkeit der in Armut lebenden Frauen der damaligen Zeit, die zu oft den Männern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.

 

Wir haben hier zwei weibliche und einen männlichen Hauptprotagonisten und wer nun denkt, dass der Roman mit einer kleinen Ménage à trois gewürzt ist, dem sei zum Schluss noch mit auf den Weg gegeben, dass das hier absolut nicht der Fall ist. Die Geschichte hält sich nicht mit Liebesgeplänkel auf, was ich persönlich auch gut finde. Der Hauptaugenmerk liegt auf den Ermittlungsarbeiten und auf der Entwicklung der Charaktere, die allesamt sehr lebendig gezeichnet sind. Die für mich heimliche Hauptprotagonistin ist jedoch die Stadt Hamburg, der Hafen, die Gängeviertel, das reiche Blankenese und die damals noch nicht so hippe Speicherstadt, die allesamt so bildlich beschrieben sind, dass man sich während des Lesens selbst dort wähnt.

 

Einige Fragen bleiben offen, aber wie ich bereits weiter oben erwähnte, ist dieses Buch der Auftakt einer Reihe. 

 

 

Mein Fazit:

Wer hätte das gedacht, dass ein Buch, das mich anfangs überhaupt nicht reizte, mir derart spannende und unterhaltsame Lesestunden bescheren würde?

 

4 von 5 Glitzersternen

 

 

 


INFOS ZUM BUCH

 

TITEL: Die Hafenärztin - Ein Leben für die Freiheit der Frauen

AUTORIN: Henrike Engel

VERLAG: Ullstein

REIHE: Erster Teil

 

ERSCHIENEN AM 03.Januar 2022

ISBN: 978-3-86493-190-1

FORMAT: Paperback

SEITEN: 464

PREIS: 14,99 Euro

 


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