Buchbesprechung: "1984.4" von Philip Kerr

Rezensionsexemplar  


Erster Satz:

"Florence richtete ihre Waffe auf den Kopf des alten Mannes, der vor ihr kniete und seine vergilbten Hände erhoben hatte; dann drückte sie, ohne zu zögern, ab."


Wohl kaum einer kommt in seinem Leben - sofern er sich auch nur ansatzweise für Literatur interessiert - an dem Klassiker "1984" von George Orwell vorbei. 1984 wurde 1948 geschrieben und sagt eine äußerst düstere Zukunftsprognose voraus, in der alle Menschen sich einer großen Macht zu unterwerfen haben, auf Schritt und Tritt beobachtet werden und für das kleinste Abweichen der vorgeschriebenen Ideologie hart bestraft werden. Nun, teilweise hatte Orwell mit seiner damaligen Vorstellung der Zukunft gar nicht so unrecht.

 

Der mittlerweile verstorbene Philip Kerr hat mit seinem letzten Roman "1984.4", der bereits 2015 entstand, eine Hommage an George Orwell verfasst und das ursprüngliche 1984 in die Zukunft verlegt, ins Jahr 2034. 1984.4 ist ein Jugendroman, eine düstere Dystopie, die dort ihren Handlungsort hat, wo wohl ursprünglich einmal die Metropole London war. 

 

Obwohl wir es hier mit einem Jugendroman zu tun haben, werden wir gleich mit dem ersten Satz ins brutale Geschehen geworfen: Wir lernen Florence kennen, die, gerade einmal 16 Jahre alt, für den Senioren-Service arbeitet. Hört sich nett an - ist es aber ganz und gar nicht. In Kerrs Zukunftsvision müssen sich Menschen ab dem 50sten Lebensjahr einem gewissen Test unterziehen, der voraussagt, ab wann der geistige Verfall einsetzen wird, der jeweilige Mensch also anderen zur Last fällt. An diesem errechneten Datum muss derjenige sich dann freiwillig an einem bestimmten Ort einfinden, um sich - so hart es klingt - euthanasieren, also sozusagen einschläfern zu lassen.

 

Die Welt ist auch in der Zukunft völlig überbevölkert, die Ressourcen mehr als knapp und der mächtige Winston (kurioserweise steht dieser Name im Original 1984 für die andere Seite) hat somit das Gesetz der freiwilligen Euthanasie erlassen.

 

Natürlich gibt es viele Menschen, die dem nicht zustimmen und versuchen, zu fliehen. In die Schweiz, die damals wie heute wie morgen neutral und sicher ist. Für die Euthanasie-Verweigerer ist der Senioren-Service zuständig, der nicht umsonst die Abkürzung SS trägt (Kerr war sehr interessiert am Zweiten Weltkrieg und hat viele seiner Geschichten damit verwoben) und diese Verweigerer ausfindig macht und entweder ausliefert oder direkt erschießt.

 

Das alles macht es dem Leser schwer, Florence zu mögen, die scheinbar keinerlei Empathie für ihre Mitmenschen aufbringen kann, für die es nur ihre Arbeit gibt, die mit dieser menschenverachtenden Ideologie völlig konform geht und die es höchstens drei Minuten lang schade findet, wenn einer ihrer Kollegen bei einem Einsatz getötet wird, was ziemlich oft passiert.

 

Als jedoch bei Florences Mutter erste Anzeichen von Demenz auftreten und ihr Termin zum Sterben schon 10 Monate später sein soll, findet ein langsames Umdenken in dem Mädchen statt, das allerdings rapide an Fahrt gewinnt, als sie sich Hals über Kopf verliebt. 

 

Für mich persönlich verliert dieser Roman leider immer mehr an Geschwindigkeit, als Florence ihre erste große Liebe Eric kennenlernt, denn die Dialoge zwischen den beiden sind einfach grauenhaft unglaubwürdig und gestelzt. Die komplette Geschichte läuft für mich von diesem Zeitpunkt an nicht mehr rund und das Ende kommt völlig überraschend. Meiner Meinung nach bleibt da zu viel unerzählt. 

 

Natürlich haben wir es hier mit einem Jugendbuch zu tun, aber ich bin mir sicher, dass auch mein 14jähriges Ich mit den Dialogen zwischen Florence und Eric nicht warm geworden wäre. 

 

Sehr viel Spaß haben mir allerdings die immer wieder eingestreuten subtilen Hinweise zu 1984 und auch zu anderen Werken Orwells gemacht. Sogar Boxer, das Pferd aus "Farm der Tiere", das dort aus dem gleichen Grund getötet wird, aus dem Florence in 1984.4 Senioren erschießt, bekommt einen kleinen Auftritt. Gestört hat mich wiederum, dass Philip Kerr zu viel aus 1984 direkt übernommen hat, wie etwa die totale Überwachung, die Ideologie, an die ausnahmslos jeder zu glauben hat und die gnadenlosen Bestrafungen. Sowas ist seinerzeit schon beim Remake von "Northanger Abbey" meiner Meinung nach gründlich in die Hose gegangen. Wenn man das Original kennt, kommt man eben schnell zu der Vermutung, dass der Autor sich ein wenig zu sehr mit fremden Federn schmückt.

 

Die allgegenwärtige Dunkelheit in den Gedanken der Menschen und im Leben der Zukunft wurde im Buch bestens herausgearbeitet, so dass man im Kopfkino immer nur eine Kulisse sieht, die grau in grau ist.  Sprachlich habe ich ebenfalls nichts auszusetzen - wenn nur die Dialoge nicht wären. Florence wurde eine Stimme gegeben, die sie mir völlig unsympathisch macht und sie eher als "Mannsweib" dastehen lässt, wohingegen Eric ganz offensichtlich der Part des "Softies" zufällt.

 

 

- M E I N    F A Z I T -

Ein spannender Jugendroman, der es vielleicht vermag, auch die jüngere Generation an Klassiker heranzuführen, der allerdings zum Ende hin leider schwächelt. 

3 von 5 Glitzersternen

 

 

 


INFOS ZUM BUCH:

 

TITEL: 1984.4

AUTOR: Philip Kerr

VERLAG: Rowohlt Verlag

 

ISBN: 978-3-499-21857-6

ERSCHIENEN im Januar 2021

FORMAT: Gebunden

SEITEN: 320

PREIS: 16,00 Euro

 

TITEL DER ORIGINALAUSGABE: 1984.4

AUS DEM ENGLISCHEN von Uwe-Michael Gutzschhahn


Offenlegung: Dieses Exemplar von "1984.4" ist mir vom Rowohlt Verlag zu Rezensionszwecken unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden. Dies beeinflusst jedoch in keinster Weise meine persönliche Meinung zum Inhalt und zur Aufmachung des Romans, denn wie immer gilt:  MEIN BLOG - MEINE MEINUNG!


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