Buchbesprechung: "Der Geiger" von Mechtild Borrmann

Erster Satz:

"Der Schlussakkord von Tschaikowskys Violinkonzert in D-Dur schwebte über die Köpfe der Menschen im Parkett, hinauf zu den Rängen, dehnte sich aus zu den Gästen auf den Balkonen und löste sich endlich in der hohen Kuppel des Konzertsaales auf."

 

 

 

Seitdem ich vor vielen Jahren "Die andere Hälfte der Hoffnung" von Mechtild Borrmann gelesen habe, bin ich ein großer Fan der Autorin, denn ihr gelingt es mühelos, ihre Romane gleichzeitig sowohl auf einer kriminalistischen als auch auf einer historischen Ebene laufen zu lassen. Beide Ebenen ziehen sich von Anfang bis Ende wie ein roter Faden durch jedes Buch, zudem hat die Autorin einen wunderbaren, teils poetischen Schreibstil, der es vermag, den Leser in eine komplett andere Welt zu versetzen.


In diesem Fall werden wir ins Moskau des Jahres 1948 versetzt, in einen Konzertsaal, in dem der begnadete Geiger Ilja Grenko soeben ein Konzert beendet hat. Die Menge bejubelt ihn und auch wir Leser kommen nicht umhin, ihn einfach zu mögen, denn er ist ein sympathischer Mensch, lebt nur für seine Musik, seine Stradivari, die schon einige Generationen lang in Familienbesitz ist, und für seine Frau Galina und die beiden Kinder.


Doch nicht alle Menschen sind Ilja wohlgesonnen und dass er oft auf Konzertreisen im Ausland ist, ist der Regierung ein Dorn im Auge. Nach diesem Konzert passiert das, wovor man ihn so oft  gewarnt hat: Er wird verhaftet, des Landesverrats beschuldigt und ohne Prozess zu 20 Jahren Arbeitslager in Workuta verurteilt.




"Manchmal hörte er Schreie aus den Nachbarzellen, hörte, wie Gefangene über den Flur gestoßen oder geschleift wurden. Dann hielt er sich die Ohren zu, schloss die Augen, wählte in Gedanken eine Partitur aus und spielte sie in seinem Kopf, hörte die Geigen, die Bläser, die Cellos, das Klavier. Er neigte den Kopf leicht nach links, hob die Rechte mit dem imaginären Bogen und spielte. In diesen Augenblicken kehrte sein Zeitgefühl zurück, er flüchtete sich in die Takte der Musik, klammerte sich an das Bild eines hin- und herschwingenden Metronoms."

 

- Zitat Seite 42/43 -

 

 

 

Ilja ist niemand, dem man den Horror eines Arbeitslagers, das Überleben in der Kälte  bei immerwährendem Hunger, Schlafmangel und diversen Krankheiten, zutrauen würde, dennoch gibt er nicht auf. Und einmal mehr zeigt sich, warum er dem Leser von Anfang an so sympathisch ist, denn es ist ihm ein ständiges Anliegen, sich um seine Mitgefangenen zu kümmern.


Ilja wird in dem Glauben gelassen, dass seine Frau und seine Kinder unbehelligt bleiben, nicht wissend, dass man ihn böse hintergangen hat. Mit seiner Unterschrift auf einem scheinbar eher formalen Papier hat er sich der geplanten Landesflucht schuldig bekannt, was für Galina und die Kinder das Schlimmste bedeutet: Sie werden in die Verbannung geschickt und leben fortan ohne jegliche Rechte.




"Da wusste sie es. Da wusste sie, worauf sie am Samstag gewartet und was sie am Sonntag gefürchtet hatte. Der Gedanke, den sie zwei Tage lang verweigert hatte, setzte sich durch, wurde laut." Sie holen dich."

 

- Zitat Seite 81 -

 

 

 

Ins kasachische Karaganda geht die Reise für Galina und die Kinder, ohne Hab und Gut und ohne Rechte, außerdem in dem Glauben, dass Ilja seiner Familie den Rücken gekehrt hat und aus Russland geflohen ist.


Die beiden Handlungsstränge um Ilja und Galina ähneln sich in ihrer Hoffnungslosigkeit und Grausamkeit, sind jedoch trotzdem völlig verschieden und so bildlich beschrieben, dass man mit den Protagonisten friert, hungert, leidet, verzweifelt und dennoch einen winzigkleinen Funken Hoffnung am Leben hält.


Ein dritter Handlungsstrang katapultiert den Leser immer wieder in die heutige Zeit, in der Iljas Enkel Sascha zunächst aus nächster Nähe Zeuge wird, wie seine Schwester Vika erschossen wird. Vika, die er jahrelang nicht gesehen hat. In ihrem Nachlass findet er beunruhigende Informationen über den Verbleib der Stradivari, die Ilja Grenko einst in der Nacht seiner Verhaftung abgenommen wurde und seitdem als verschollen gilt. Sascha macht sich daran, diese Geige zu suchen, nicht nur, weil sie rechtmäßig immer noch seiner Familie gehört, auch in dem Wissen, dass ein solches Instrument heutzutage einen unschätzbaren Wert hat.




"Sie wurden auf offene Lastwagen verladen und fuhren durch eine Stadt, der man ansah, dass sie nicht gewachsen war, sondern hingeworfen. Ilja dachte an unbegabte Musiker, die Notenblätter herunterspielten, ohne zu begreifen, dass die Musik zwischen den Tönen wuchs, dass es die Zeit war, die den Klang machte. Es gab durchaus prunkvolle Häuser, aber auch sie wirkten, als wären sie ohne Fundament.

In den Straßen gingen nur wenige Menschen. Einige hoben den Blick, sahen den Wagen mit der verwahrlosten Menschenfracht teilnahmslos hinterher. Müde wirkten sie, so als seien sie auf dem Weg in bewohnbare Gebiete verloren gegangen."

 

- Zitat Seite 121 -

 

 

 

Mit der Suche nach der Stradivari scheucht Sascha schlafende Hunde auf, sticht geradezu in ein Wespennest. Er wird verfolgt, gelinkt, belogen und muss mehr als einmal um sein Leben fürchten. Und dennoch gibt er nicht auf. Diese ganze Geschichte ist voller Korruption und Machtmissbrauch, Gier und Unmenschlichkeit. Attribute, die sich allesamt konstant von 1948 bis in die heutige Zeit ziehen.




M E I N    F A Z I T

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Einmal mehr hat Mechtild Borrmann ein äußerst spannendes Buch abgeliefert, das meiner Meinung nach zudem sprachlich überragend ist. Großartig, wie sie drei so unterschiedliche Handlungsstränge ineinander verknotet, so dass sie am Ende ein großes Ganzes ergeben. Einzig das zunehmend verworrener werdende Ende, bei dem die Grenze zwischen Gut und Böse mehr und mehr verschwimmt, hat mir nicht gefallen.


4 von 5 Glitzersternen 





INFOS ZUM BUCH


TITEL: Der Geiger

AUTORIN: Mechtild Borrmann 

VERLAG: Knaur Verlag 

ISBN: 978-3-426-51038-4


ERSCHIENEN am 02. Dezember 2013

FORMAT: Taschenbuch 

SEITEN: 304

PREIS: 10,99 Euro 


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