Buchbesprechung: "Die Überlebenden" von Alex Schulman


Erster Satz:

"Ein Polizeiauto pflügt langsam durch das blaue Grün, die Traktorspur zum Hof hinunter."



Stille breitet sich in einem aus, sobald man die letzte Seite dieses Romans gelesen, das Buch zugeklappt und noch einmal andächtig über den Einband gestrichen hat. Staunen, Betroffenheit und Trauer, aber auch Freude und Verstehen kämpfen im Herz des Lesers miteinander. Über dieses sprach- und bildgewaltige Buch, über eine dramatische und dennoch großartige Geschichte. Eine Geschichte, zu der der Autor von seinen zwei Brüdern inspiriert wurde, als ihm eines Tages schlagartig klar war, dass das Dreiergespann der Kindheit schleichend und unbemerkt immer mehr auseinander gedriftet war. Was war jedoch der Auslöser dafür? - Dem geht Alex Schulman in "Die Überlebenden" größtenteils fiktiv, manchmal jedoch auch autobiographisch auf den Grund.






Als leicht und unbeschwert kann man die Kindheit von Benjamin, Pierre und Nils keineswegs beschreiben, eher als verloren. Und verloren sind sie auch heute, längst erwachsen, immer noch. Sie haben nicht nur einander sondern auch sich selbst völlig aus den Augen verloren und treffen sich nun zu einem traurigen Anlass wieder: Zur Beerdigung der Mutter.


Um noch einige persönliche Gegenstände an sich zu nehmen, gehen sie in die Wohnung der Mutter. Und finden einen Brief. Und starten zu einer außergewöhnlichen Reise in die Vergangenheit, zu einem Ort, an dem Geister und Dämonen lauern - zum Ferienhaus ihrer Kindheit.


Die Geschichte beginnt dort, wo andere aufhören, nämlich am Ende. Von diesem Ausgangspunkt werden die Begebenheiten eines einzelnen Tages rückwärts erzählt, abgelöst aus Fragmenten aus der Vergangenheit.


Dem Autor ist es so gelungen, das Puzzle Stück für Stück für den Leser zusammen zu setzen, so dass die Geschichte am Ende ein großes Ganzes bildet.




Eins haben sie nie gelernt, die drei Brüder: Miteinander zu reden, zu diskutieren, Streit zu schlichten. Aufgewachsen zwischen Gleichgültigkeit, seelischer Misshandlung, Dreck, Verwahrlosung, Alkoholmissbrauch und Schlägen gab es durchaus auch immer wieder diese kleinen Momente, in denen scheinbare Harmonie herrschte, in denen die Familie sich wie eine Familie anfühlte. Kostbare Augenblicke, in denen die Jungs um die Liebe der Mutter wetteiferten.... und doch meistens verloren.


Drei völlig unterschiedliche Charaktere hat diese Kindheit hervorgebracht. Benjamin, der stille Beobachter, der Sensible, der Streit schon spürt, bevor er entsteht und möglichst nicht auffallen will, trotzdem die wichtigste Person dieses Romans ist. Pierre, der Unsichere, der durch Draufgängertum auf sich aufmerksam macht und manchmal leider auch durch Grausamkeiten. Und schließlich Nils, der Desinteressierte, der mit seiner Familie eigentlich nichts zu tun haben will und sich möglichst oft ausklinkt.


Nun sind die drei erwachsen und gehen ihre eigenen Wege.... und streiten und beschuldigen sich gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen erneut. Liebe und Verständnis ist das, was ihnen seit jeher gefehlt hat. Und so prügeln sie sich bis aufs Blut. 









Und dann ist da noch Molly, die kleine Hündin, der Augapfel der Mutter. Meistens. Einerseits geliebt und verwöhnt, andererseits dann plötzlich wieder mit Missachtung behandelt, ist aus Molly ein ängstliches kleines Ding geworden, deren einzige verlässliche Bezugsperson Benjamin ist.


Ja, es ist ein deprimierender und trauriger Roman über eine kaputte Familie, in der die Eltern sich gegenseitig scheinbar nur mit viel Alkohol intus ertragen können, in der die Kinder vernachlässigt werden, in der nichts, aber auch gar nichts stimmt.


Trotzdem ist es Alex Schulman aufs Vortrefflichste gelungen, das Gefühl des schwedischen Sommers, der lauen und halbdunklen Nächte am See, rüberzubringen, so dass der Leser trotz der Kälte und Distanz der Familie beim Lesen innerlich gewärmt wird.


Alex Schulmans bildgewaltiger Schreibstil ist es, der einen das Buch kaum noch aus der Hand legen lässt, der einen mal fassungslos, mal schaudernd umblättern lässt und der einen das Schlimmste überhaupt nicht kommen sehen, ja noch nicht einmal erahnen lässt. Als man es dann liest, möchte man aufschreien.... und fängt an zu resümieren... und merkt, dass das alles zusammenpasst.


Ein Happy End wäre für diesen Roman denkbar unpassend und natürlich gibt es auch keins. Was lange nachhallt sind jedoch die Gedanken an Benjamin, Pierre und Nils und die Erkenntnis, wie wichtig es ist, miteinander zu reden und füreinander da zu sein.




▪️ MEIN FAZIT ▪️

Deprimierend. Und dabei so großartig und überwältigend. 5 von 5 Glitzersternen.




Im Zuge einer Bloggeraktion des DTV Verlags und der Agentur Ehrlich & Anders habe ich dieses Buch zu Rezensionszwecken kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen und zeitgleich - zwecks Austausch (in Bücherkreisen nennt man das Buddyread) - mit Sarah von Sarahs Pancake gelesen und mich mit ihr in langen Textnachrichten darüber ausgetauscht. Es war mir ein Fest!

 

 

 

 


INFOS ZUM BUCH

 

TITEL: Die Überlebenden

AUTOR: Alex Schulman

VERLAG: DTV Verlag

ERSCHIENEN am 20. August 2021

 

ISBN: 978-3-423-28293-2

FORMAT: gebunden

PREIS: 22,00 Euro

SEITEN: 304

 

AUS DEM SCHWEDISCHEN VON Hanna Granz

TITEL DER ORIGINALAUSGABE: Överlevarna


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