Ein Roman, in dem die Grenzen zu verschwimmen scheinen. Ungewöhnlich und mit einer absoluten Sogwirkung.
Rezensionsexemplar
Erster Satz:
"Als ich erwachte, wusste ich nicht, wo ich war, der Boden vor dem Fenster lag in sattem Licht, ich selber tauchte ohne Zeitgefühl und Orientierung aus einem randlosen Zustand an die Oberfläche."
Zugegeben, Liebe auf den ersten Blick war es nicht bei mir und diesem Roman. Als ich zum ersten Mal mit dem Lesen anfing, war ich gestresst und hatte zwischen zwei Terminen kaum Zeit und noch weniger Konzentration. Ich wusste nichts mit dem Gelesenen anzufangen und legte das Buch nach zwanzig Seiten wieder weg.
....um es direkt am nächsten Tag, einem freien Tag, mit viel Zeit und Kaffe und Gemütlichkeit im Bett erneut zu lesen. Erneut von Anfang an. Ja, man muss sich auf dieses Buch einlassen können, Ruhe haben, über das Gelesene nachdenken können. Denn dann....dann entwickelt dieser Roman schon sehr schnell eine Sogwirkung, der man sich kaum noch entziehen kann.
"Es ist immer die gleiche Geschichte, in immer anderer Gestalt. Der Inhalt bleibt, die Form verändert sich, sagte sie.
Ach so.
Ja, sagte sie, ein und dieselbe Geschichte, mal als Gedicht, mal als Drama. Gereimt. In verschiedenen Zeiten. In einer anderen Stimme."
- Zitat Seite 58 -
Eine geschlossene Psychiatrie, Grün, der Pfleger, der seit mehr als zwanzig Jahren hier arbeitet, eine junge Frau, deren Name dem Leser bis zum Schluss verwehrt bleibt. Das zaghafte Aufbauen einer Art Vertrauensbasis. Klare Momente. Kurz darauf wieder verschwimmende Grenzen. Die ganze Geschichte wabert teilweise wie im Nebel, nicht greifbar, wie ein gerade noch geträumter Traum, aus dem man urplötzlich aufwacht und einen Moment braucht, um in der Wirklichkeit anzukommen.
Dann die Fakten, die Erkenntnis, dass nicht nur die junge Frau, gefangen in Schuldgefühlen und dem Trieb zur Selbstzerstörung, Hilfe braucht, sondern auch Grün. Grün, dessen Eltern sein "Frauenberuf" nicht gut genug ist. Grün, der ein traumatisches Erlebnis hinter sich hat. Grün, der in seiner Ehe und Vaterrolle nichts weiter als ein Statist ist. Grün, der seine Tablettensucht verheimlicht. Und Grün, der langsam eine Grenze überschreitet. Grün, der seine Macht missbraucht. Grün, der trotzdem immer der Nette, der Vertraute ist. Und dahinter doch so anders.
"Das sind meine Bilder, nicht deine, sagte ich, du bist hier, du warst nicht dabei. Hörst du? Kannst du mir deinen Namen sagen? Meinen? Wo du gerade bist?
Ihr Blick flackerte in meine Richtung, Grün, sagte sie heiser. Der Klang meines Namens hatte etwas Entwaffnendes und ich lockerte meinen Griff. Zuneigung schnürte mir den Hals zu."
- Zitat Seite 95 -
Ein Schreibstil, an den ich mich zunächst annähern musste, da mir klare Grenzen und die direkte Rede in Anführungszeichen fehlte. Anfangs. Bald schon ist klar, dass es für diese Geschichte gar nicht anders geht. Dass dem Leser hier viel Spielraum gelassen wird, um Geschriebenes und Gesagtes richtig packen zu können.
Und dennoch entgleitet die Handlung ein uns andere Mal in überraschende Richtungen, die Autorin packt Stückchen für Stückchen Grüns Geschichte aus. Grün, den man anfangs so sympathisch fand und hinter dessen Handeln sich Abgründe auftun.
Obwohl der ganze Roman wie verschwommen erscheint, ist am Ende alles klar. Alles gesagt, obwohl es nicht geschrieben wurde.
MEIN FAZIT: Ein außergewöhnliches Debüt einer Autorin, deren Namen man sich merken sollte. Ein Roman, der eine regelrechte Sogwirkung entfaltet. 4 von 5 Glitzersternen
INFOS ZUM BUCH
AUTORIN: Annika Domainko
TITEL: Ungefähre Tage
VERLAG: C.H. Beck
ERSCHIENEN AM 26. Januar 2022
ISBN: 978-3-40678-155-1
FORMAT: Gebunden
SEITEN: 222
PREIS: 23,00 Euro
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